Männer sind auch Opfer

Junge als Opfer

Daten über den Fakt Junge als Opfer von Kindesmissbrauch zu bekommen, ist schwer. Die überwiegenden Resultate basieren auf Schätzwerte, Dunkelziffern und einzeln durchgeführte Befragungen. Nimmt man jedoch die sich daraus ergebenen Zahlen, zeigt sich ein erschreckendes Bild: Betroffen sind jährlich ca. 50 000 Jungen, die in doppelter Hinsicht um Anerkennung als Opfer von Missbrauch kämpfen müssen. Erstens, weil sie missbraucht wurden und zweitens weil sie als Jungen betroffen sind.

Geht unsere Gesellschaft dem Fakt Kindesmissbrauch zu gern aus dem Weg, tut sie es bei dem Fakt Junge als überlebender von Kindesmissbrauch noch offensichtlicher. Ein Junge hätte die Möglichkeit sich zu wehren, hätte es nicht so weit kommen lassen müssen, sich der Situation freiwillig hingegeben. Ein Junge ist von Natur sexuellen Abenteuern aufgeschlossener, "verdaut" eine solche Situation besser und klärt sie für sich ganz allein, weil er damit umzugehen weiß.

Doch Missbrauch stellt für Jungen wie für Mädchen den selben seelischen und körperlichen Abgrund dar. Die Qualen, die Hilflosigkeit, die Ängste und die verwirrenden Gefühle sind bei Jungen nicht anders als bei Mädchen. Sie stürzen in einen Strudel der Emotionen, schämen sich für das was ihnen angetan wurden, fühlen sich schuldig und verraten.

Ein Junge unterliegt den allgemeinen Klischees von Männlichkeit, die ihm wenig Freiraum für Gefühle lassen. Er muss seine Probleme allein lösen können, darf niemals weinen, darf niemals die Kontrolle verlieren, darf sich niemals von seinen Emotionen leiten lassen und darf keinen Schmerz zeigen. Würde er es dennoch tun, müsste er sich eingestehen, das er hilflos ist und als Schwächling betrachtet wird. Diese Zwänge, Vorurteile und Selbstzweifel führen nicht selten dazu, das der Junge/Mann schweigt und sein Leid, oft über Jahrzehnte tief verborgen mit sich herumträgt.

Fakten

Aus unterschiedlichen Befragungen von Männern zum Thema "Sexualisierte Gewalt gegen Jungen", ging hervor, dass:

  • 8 - 10% der befragten Männer sexualisierte Gewalt erfuhren. Sich daraus ergebende Schätzungen gehen davon aus, das etwa jeder 5. - 8. Junge sexualisierte Gewalt erlebt.
  • 50 % der betroffenen Männer angegeben hatten, dass sie einen einmaligen Übergriff erlebten, die übrig betroffenen Männer gaben an, dass sich ihr erlebter Missbrauch über Jahre vollzog.
  • es einen Zusammenhang zwischen dem Bekanntheitsgrad des/der TäterIn zum Opfer und der Dauer des Missbrauchs gibt. Je enger die Beziehung zwischen Opfer und TäterIn, desto häufiger und länger findet er statt.
  • das Durchschnittsalter der missbrauchten Jungen zwischen 10 - 12 Jahre liegt und Jungen genau wie Mädchen im Säuglingsalter und als Kleinkinder missbraucht werden.
  • etwa 15% der befragten Männer den Missbrauch durch fremde Personen erlitten. Die übrig Befragten, hatten schon vorher eine Beziehung zum Täter.
  • dass der Anteil von Frauen etwa bei 10% an der gesamten Täterschaft liegt, was bedeutet, das 90% der Täter männlich sind. Es scheint aber so zu sein, das Jungen häufiger als Mädchen von Frauen missbraucht werden.
  • ein Drittel der Betroffenen von älteren Kindern oder Jugendlichen sexuell missbraucht wurden. Hier liegt eine besondere Schwierigkeit, denn auf der einen Seite sollte die auf Neugierde und gegenseitige Zustimmung beruhende Sexualität von Kindern und Jugendlichen nicht abgestempelt oder gar verboten werden, auf der anderen Seite darf man sie aber auch nicht bagatellisieren, wenn ein deutlicher Altersunterschied besteht und die sexuellen Handlungen irgendeine Form von Zwang beinhalten.

Folgen

Die häufigsten Auswirkungen sind:

  • Angst- und Panikattacken, Verwirrung und Anhäufung von Phobien
  • Depressionen, oft mit Selbstmordgedanken oder -versuchen
  • Schlaflosigkeit und Schlafstörungen
  • Unbehagen bei Berührungen
  • Esstörungen
  • ein deformiertes und/oder zu negatives Körperbild
  • Missbrauch von Drogen, Alkohol oder anderen Suchtmitteln
  • selbstzerstörerisches verhalten, Autoaggression
  • Erinnerungsverlust und/oder -lücken, Gedächtnisausfall
  • Unfähigkeit Beziehungen einzugehen oder zu ertragen
  • selbstgewählte Einsamkeit, Entfremdung, Gefühl von Isoliertheit
  • Angst als Erwachsener Opfer anderen Missbrauchs zu werden, Scham- und Schuldgefühle
  • Unfähigkeit sich selbst und anderen zu vertrauen
  • zwanghaftes oder nicht existierendes Sexualverhalten
  • übersteigertes oder zu geringes Leistungsverhalten
  • übertriebene Aufmerksamkeit
  • Schreckhaftigkeit
  • übertriebene oder mangelnde Aufmerksamkeit für das Erscheinungsbild
  • abgespaltene Persönlichkeit oder eine Vielzahl anderer Personen besitzen oder das Gefühl, sie zu haben

Schweigen

Viele der hier aufgeführten Ursachen des Schweigens treffen auch für weibliche Überlebende zu. Dennoch schweigen männliche Überlebende weitaus häufiger über ihren erlebten Missbrauch. Ursachen dafür liegen in der Erziehung und an den Anforderungen die an einen Jungen/Mann gestellt werden. Zudem kommen noch einige andere Ursachen hinzu:

Die Drohung

Oft wird der Junge vom Täter massiv unter Druck gesetzt, niemals über den Missbrauch zu sprechen. Das ist der erste Schritt des Täters, um den Missbrauch ungestört vollziehen zu können und sich den Folgen zu entziehen. Der Täter benutzt dazu viele perfide Methoden. Der Junge wird u.a. damit bedroht, das der Junge selbst und all jene die der Junge liebt oder gern hat, etwas gewaltsames erfahren oder das der Täter im Falle einer Aufdeckung selbst Schaden nimmt. Dieser Punkt zeigt deutlich. die Angst und Furcht des Täters vor der eigenen Tat und der Aufdeckung des Missbrauchs, die der Täter skrupellos auf den Jungen abwälzt. Viele Jungen halten so den Missbrauch tapfer aus, um so Schaden von Geschwistern, Eltern oder anderen geliebten Personen fernzuhalten. In dieser Situation lernt der Junge bald, lieber zu schweigen als Hilfe zu holen und damit die gefahrenvollen Folgen heraufzubeschwören, die ihm angedroht werden.

Die "Erregung"

Die empfundene "Lust" oder "Erregung" während des Missbrauchs ist das wahrscheinlich verwirrendste Gefühl eines Überlebenden. Es entstehen Schuldgefühle, die deswegen zum Schweigen führen, weil ein Mensch sexuell ausgebeutet werden kann und sexuelle Lust erlebt, OHNE dies verhindern zu können. Sexuell missbrauchte Jungen machen sich Selbstvorwürfe, obwohl sie keine Möglichkeit hatten, anders zu empfinden. Nicht immer sind andere Gefühle - Angst, Ekel und Schmerz - so stark, das eine sexuelle Stimulierung verhindert werden kann. Der Körper reagiert mit sexueller Erregung auf einen Vorgang, der nicht stattfinden darf und soll. Der Täter macht sich diesen Umstand allzu oft zunutze und suggeriert dem Jungen Lustgefühle und redet ihm so ein, das der Junge es ja "wolle" , weil er es "schön finde" und "Spass" daran habe. Doch die Realität sieht anders aus! Ein williges Opfer gibt es nicht! Jemanden zum Opfer machen, schädigt dessen Geist. Ein Element körperlicher Lust schmälert nicht das destruktive Wesen des sexuellen Kindesmissbrauchs. "Es hat dir Spass gemacht" ist die egoistische Aussage eines Täters, der versucht, das eigentliche Wesen des Missbrauchs zu verdecken und den Jungen zum Komplizen zu machen. Was dem Jungen Freude machte, war ein rein körperliches Gefühl, das die Art Nähe widerspiegelt, die der Junge brauchte - nicht der Akt des Missbrauchs an sich. Der Junge hat nichts falsches gemacht - er hätte eine bessere Behandlung verdient! Falsch war, das er einer schädlichen Umgebung unterworfen war, die die Unterscheidung von Liebe und Missbrauch vernebelte.

Die Homophobie

Homophobie, die Angst des Überlebenden, durch gleichgeschlechtlichen Missbrauch homosexuell zu werden, ist ein weiterer Grund für das Schweigen. Der Junge fragt sich, ob der Missbrauch seine Sexualität dahingehend beeinflusst hat, das er befürchtet durch den Missbrauch schwul zu werden oder zu sein, weil er seine sexuellen Erfahrungen nur mit männlichen Tätern in Verbindung bringt oder missbraucht worden zu sein, weil er schwul ist.

weitere mögliche Ursachen:

  • er schweigt weil er glaubt, sich nicht genügend gewehrt zu haben
  • er schweigt weil er befürchtet, belächelt oder in seiner Männlichkeit angezweifelt zu werden
  • er schweigt, aus dem Gefühl heraus, völlig allein zu sein, weil die Umwelt das Opfer Junge übersieht
  • er schweigt aus Angst, dass die Familie auseinanderfallen könnte und ihm niemand glaubt, weil der eigene Vater, die Mutter, Großvater oder Freund der Mutter..... der Täter ist
  • er schweigt, weil er sich schuldig fühlt...

Der Überlebende muss erkennen, das er den ersten Schritt wagen und aus dem Schweigen treten muss! Nur wenn er das Schweigen bricht, hilft er sich und beginnt das Leben nach dem "überleben".

Täter

In der Öffentlichkeit ähnelt das Bild des Missbrauchers noch dem des Mannes, der aus dem Busch springt, oder des Mannes, der sich vor Kindern entblößt. Doch Missbraucher findet man zu 90% in den Familien. Sie sind in der Regel "normale" Menschen, die ihr Tun sorgfältig planen, um einer Entdeckung zu entgehen. Sie können ihr Handeln sehr gut einschätzen.

Etwa 80 - 90% Männer und 10 - 20% Frauen. Missbrauch ist kein Problem der sozial Schwachen, sondern in allen Gesellschaftsschichten zu finden.Täter sind weder auffällig noch entsprechen sie dem typischen Täterbild. Zumeist sind es Personen aus dem engeren sozialen Umfeld des Kindes: Vater, Mutter, Großvater, Nachbar...usw.

Täter, die den Missbrauch außerhalb der Familie verüben, sind oft in Berufen zu finden, die eng mit der Arbeit mit Kindern zu tun haben oder suchen sich solche Berufe und Tätigkeiten gezielt aus: Lehrer, Erzieher, Trainer, Pfarrer...usw. Sie sind sehr geschickt in der Aufnahme von Kontakten und nutzen die Unwissenheit und Hilfsbereitschaft der Kinder aus oder suchen speziell nach den "wunden" Punkten. Oftmals sind dann keine Gewalt und Zwang mehr nötig.

Täter sind nicht in der Lage, die eigenen Bedürfnisse von denen der Kinder zu unterscheiden. Kindliche Zuwendung und Zärtlichkeit deutet der Täter im eigenen Interesse um, als Verlangen des Kindes nach sexuellem Kontakt. Daraus wird deutlich, das es sich nicht selten um Wiederholungstäter handelt und in der Regel nicht um einmalige Handlungen. Äußerst selten sind homosexuell veranlagte Männer Missbrauchstäter. Der überwiegende Teil der männlichen Täter sind heterosexuell veranlagt und legen oft sehr großen Wert darauf.

Männer werden oft zu Tätern, weil sie auf diese Art versuchen, Macht über Schwächere auszuüben. Sie haben Schwierigkeiten, sexuelle Beziehungen mit Gleichaltrigen einzugehen, weil sie die Normen und Werte, die sich daraus ergeben, nicht erfüllen können.. Hieraus ergibt sich nicht selten eine pädosexuelle Neigung oder Fixierung auf Kinder. Einige Täter sind selbst Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und haben diese Erfahrung in ihr Sexualverhalten einfließen lassen.

Der Täter besitzt eine deformierte Wahrnehmung der Grenzen im emotionalen, sexuellen und körperlichen Bereich anderer. Sie übertragen die Verantwortung ihres Fehlverhaltens und ihrer sexuellen Handlungen auf das Opfer und übernehmen keine Verantwortung für ihr tun und handeln oder beachten diese in keiner Weise. Der Täter entwickelt selten ein Schuldbewusstseins. Sie nehmen meistens nur dann eine Therapie an, wenn sie dadurch ein mildes Urteil erwarten können. Sie leugnen in der Therapie oft das Ausmaß ihres Handelns und die Folgen für das Opfer.

Täterin

Häufig werden sexuelle Handlungen zwischen Jungen und Frauen romantisiert. Man betrachtet es als "Eintritt" in das Mannesalter oder als ""Erfolgstreffer". Ein Junge, der darüber spricht, erntet nicht selten Häme und Spott, wenn er den Missbrauch als unangenehm oder gewalttätig beschreibt. Männliche Überlebende selbst, spielen das Geschehende herunter oder machen sich selbst Vorwürfe, als das sie die Schande, von einer Frau sexuell missbraucht worden zu sein, sich eingestehen.

Etwa 10 - 20% der Täter sind Frauen. Diese Art von sexuellen Missbrauch ist schwer aufzuklären oder wahrzunehmen, da er häufig in Pflege- oder Fürsorgeverhalten eingebunden ist. Dadurch erscheint sich eine Verharmlosung widerzuspiegeln, die von tiefen Ängsten vor sexueller Gewalt durch Frauen und Mütter gekennzeichnet ist.

Eine Mutter wird als asexuelles Wesen angesehen, die sich aufopfernd und selbstlos der Fürsorge und Pflege der Kinder widmet. Entgegen Männern wird ihr ein intensiverer Körperkontakt zugestanden und viele bestimmte Handlungen werden als normal angesehen, die bei Männern als Übergriffe gewertet werden. Auf diese Art kann das Sorge- und Pflegeverhalten von Müttern, wenn es mit sexuellen Übergriffen verbunden sein sollte, gut verdeckt werden. Sexueller Missbrauch durch Frauen wirkt auch deshalb so bedrohlich, weil er unsere Vorstellungen darüber, wie sich Frauen gegenüber Kindern verhalten, irritiert und in Frage stellt.

Der Text stammt von der Seite „das vergessene Opfer“, wir danken Yucco sehr, dass wir ihn verwenden dürfen.

Literaturhinweise

Mike Lew: Als Junge mißbraucht. Wie Männer sexuelle Ausbeutung in der Kindheit verarbeiten können. Verlag Kösel, München

Autorengruppe Tauwetter: Tauwetter. Ein Selbsthilfe-Handbuch für Männer, die als Junge sexuell missbraucht wurden. Verlag Donna Vita, Ruhnmark

Dirk Bange, Ursula Enders: Auch Indianer kennen Schmerz. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Jungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Nele Glöer, Irmgard Schmiedeskamp-Böhler: Verlorene Kindheit. Jungen als Opfer sexueller Gewalt. Verlag Antje Kunstmann, München

Henri Julius, Ulfert Boehme: Sexuelle Gewalt gegen Jungen. Verlag Hogrefe & Huber